/ DER BEIM BUNDESGERICHTSHOF — 2 StE 2/93 — 1 Karlsruhe, den 4. uU 1994 Herrenstra e 45a (PLZ: 76133) Postfach 2720 (PLZ: 76014) Telefon (0721) 159—0 Durchwahl 159—721 Telex: 7825828 Teletex: 721665=BAKa Telefex: (0721)159—606 L An den Vorsitzenden des 1. StrafsenatS des Ka1r rnergeriChtS Berlin Herrn Vorsitzenden Richter am KaxmnergeriCht Kubsch o.V.i.A. Witzlebenstra e 4-5 14057 Berlin 1 fl Betrifft: Bezug Strafverfahren gegen Youssef u.a. wegen Mordes u.a. hie r : Mohainmad Atris - H Uptverhandluflg vom 30.Jüni 19 94 .iIid Antrag des VerteidigerS des Angeklagten Atris vorn selben Tage fl Ich beziehe mich zunächst auf meine Stellungnahme von 28. März 1994. Die darin zur Frage des dringenden Tatver— dachts gemachten Ausführungen werden aufrechterhalten. Die seither durchgeführte Beweisaufnahme hat diese VerdachtS lage bestätigt und erhärtet. Dies gilt namentlich für die — auch zur subjektiVen Tatseite des Angeklagten — wesent- liche und zentrale Frage, ob der Angeklagte AtriS den Pa seines Bruders Chaouki vor oder nach dem Mykonos-Attentat von 17. September 1992 an sich gebracht hat. Hier war auch bei der gerichtlichen V rnehm1 1flg der von dem Angeklagten Atris und seinem Bruder benannten Entlastungszeugen das AA00000 1
—2— schon im Ermittlungsverfahren beobachtete Bemühen dieser Zeugen erkennbar, den ma -geblichen Zeitpunkt möglichst weit in Richtung Ende September 1992 zu verlegen. Auffällig war dabei, da insbesondere die Zeugen Güzel, El—Debs (verhei- ratete Duman) und Haci Duman sich nach rund eineinhalb Jah- ren angeblich noch an Dinge und Ereignisse detailgenau “er- innern“ konnten, die — jedenfalls zur damaligen Zeit — für diese Zeugen ohne jegliche Bedeutung waren. Vom tatsächlichen Erinnerungsvermögen dieser Zeugen konnten sich alle Verfahrensbeteiligten unmittelbar überzeugen: So konnte sich beispielsweise der Zeuge Güzel weder an den Zeitraum seines Urlaubs in jenem Jahr noch an die Umstände der Pa übergabe durch Chaouki Atris noch an den Diebstahl bzw. Unfall seines Fahrzeugs erinnern; die Zeugin Duxnan wu te weder wo noch wann •das Gespräch Güzels mit Haci Duman über den Pa stattgefunden hat, und war nicht in der Lage, den zuletzt von ihr gebrauchten Begriff “Spätsommer“ näher einzugrenzen; Haci Duman konnte sich weder an den Fahrtver- fl lauf mit Güzel noch an dessen Verkehrsunfall erinnern. Umso bezeichnender ist es, da 3 der einzig-wirklich- von dem Pa verlust Betroffene, nämlich Chaouki Atris, zur zeit- lichen Eingrenzung dieses Ereignisses zunächst überhaupt keine und dann so widersprüchliche Angaben machte, da ibm fl letztlich — nach massiver Intervention eines Verteidigers — nur noch der “Rettungsanker“ des § 52 Abs. 3 Stpo blieb, um Schlimmeres zu verhindern. In diesen Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, da sich die Angaben der Zeugen Güzel und Chaouki Atris zum Grund der angeblichen Pa überlassung von Atris an Güzel — ihre Richtigkeit einmal unterstellt - überhaupt nur dann in Ein- klang bringen lassen, wenn sich die damit zusammenhängenden Vorgän e einige Wochen früher als bisher behauptet, nämlich vor dem Urlaub des Zeugen Güzel (13. Juli bis 14. August fl -J
—3— 1992). zugetragen haben. Denn allenfalls bis zum UrlaubS beginn GüzelS konnte ChaoUki tris noch damit rechnen, von Güzel bei der schaffUng eines VisumS unterstützt zu werden. Güzel aber hatte - wie er auf ausdrückliC Frage erkl&rte - seine ReiSePläne schon vor ubsbeginfl auf ge- geben. Rechnet man von hier an drei bis vier Wochen Frist hinzu, die •nach Angabe des Zeugen Güzel bis zur Rückgabe des Passes an Chaouki Atris verstriCh t sein sollen, SO kommt man etwa zu Mitte August als gabezeitPUflkt. Die- sen Zeitraum hat auch die Zeugin EllOUmi als durchaus mög— lich bezeichnet. Letzte Zweifel daran, da ChaoUki Atris seinen Pa nicht erst Ende Septembers sondern bereits Ende August oder fang September 1992 vermi te und zwar deshalb, weil sein Bruder Moha mad tris ihn ihm weggenommen hatte, werden durch die Angaben des Zeugen plönzke vom Sozialamt wedding beseitigt. Sie belegen, da Cha0u - tris sich die zum n Erhalt von Sozialhilfe twen ige cheifligun des Arbeit- samtes deshalb nicht beschaffen konnte , weil er bereits am 4. September 1992 zum wiederholten Mal seinen Pa nicht hatte vorlegen können. Die ittlUng des Zeitpunktes der p rückgabe von Güzel an Atr ist von wesentlicher Bedeutung für die Frage, mit welchem Wissen um die jfltergrün der flgeklagte tris den Pa seines Bruders an sich gebracht und jtergegeber hat. Dabei sprechen sowohl die wechselhaften? nur dem jeweiligen angePa tem jfllassungen des geklagten tris als auch die krampfhaften mÜhuflgen der von ihm be- nannten zeugen, den Zeitpunkt der p rückgabe von Güzel an ChaoUki tris auf jeden Fall hinter den 18. September 1992 zu verlegen, dafür, •da die p eschaffun schon vor diesem Zeitpunkt zugesagt war. Dies war aber nur dann notwendig? n
/ -4- wenn ein Tatzusainmenhang gegeben war und der Pa nicht nur ( - wie behauptet - zur vorübergehenden illegalen Ausreise aus Abschiebungsgründen oder gar zur illegalen Einreise der Freundin des Angeklagten Rhayel benötigt wurde. In diesem Zusammenhang sprechen auch die nur als konspirativ zu bezeichnenden Umstande der Pa beschaffung und Überbringung sowie die wiederholten Reisen des Angeklagten Atris nach Rheine, die er immer nur dann einger&umt hat, wenn sie ihm nachzuweisen waren, für sich. Solches Verhalten w&re bei einem “harmlosen“ Hintergrund überflüssig gewesen. Von Bedeutung sind ferner auch die durch den Zeugen KHK Kröschel eingeführte Aussage des Zeugen Jarade und die darin enthaltenen Angaben jenes Zeugen zur Rolle des Ange- klagten Atris. Bei aller Zurückhaltung, die im augenblick- lichen prozessualen Stadium noch geboten ist, spricht doch vieles für die Richtigkeit der früheren Angaben Jarades und damit auch dafür, da Atris ursprünglich. in anderer Funk- tion an der beteiligt werden sollte, als dies letztlich der Fall war, da er damit aber gleichwohl über die bevorstehende Tat als solche unterrichtet war und deshalb auch die wahren Hintergründe und Ziele der Pa beschaffung kannte. Eine Gesamtwürdigung der im Ermittlungsverfahren und im Verlaufe der bisherigen Hauptverhandlung gewonnenen Er- kenntnisse führt deshalb dazu, vom unveränderten Fortbeste- hen des dringenden Tatverdachts der Beihilfe zum vierfachen Mord gegen den Angeklagten Atris in der Weise auszugehen, da er in Kenntnis der Tatplanung den Pa seines Bruders an sich gebracht und den Tätern zur Verfügung gestellt hat. fl
—5— Ich beantrage deshalb, die Antr&ge des Verteidigers des fl Angeklagten, das Verfahren gegen Atris abzutrennen und den Haftbefehl gegen diesen aufzuheben oder hilfsweise au er Vollzug zu setzen, abzulehnen. Im Auftrag Jost B glaubigt ‚Jct«:c ‘1:: . ‘.‘ ‘• “. - n n
b. u. v. n Die Anträge des Angeklagten A t r 1 s ‚ das Verfahren gegen ihn abzutrennen und den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise des- sen Vollzug auszusetzen, werden abgelehnt. 1. Eine Abtrennung des Verfahrens ist untunlich. Der fortbe— stehex ide Verdacht der Beihilfe zum v erfachen Mord macht es auch im Falle des Angeklagten Atris erforderlich, die Haupttat und die Beteiligung des Angeklagten daran in einem gegen die übrigen Angeklagten geführten gemeinsamen Verfahren aufzuklä— ren. II. Die Untersuchungshaft des Angeklagten Atris hat fortzu— dauern. 1. Der Angeklagte ist nach wie vor dringend verdächtig, in den Tatplan eingeweiht gewesen zu sein unddie Ausführung der Tat dadurch gefördert zu haben, daß er durch die Entwendung des Reisepasses seines Bruder5 Chaouki Atris anderen Tatbete.i.iig- ten dieAussicht eröffnete, daß nach der Tat mit Hilfe des Pas- ses eine Flucht in das Ausland möglich sei. a) Die Verteidigung ist der Ansicht, daß der Angeklagte Atris mit der Beschaffung des Passes lediglich einen Freundschafts- fl dienst geleistet habe, ohne um einen Bezug dieses Vorganges zu • dem Attentat vom 17. September 1992 zu wissen und ohne die Verfälschung des Passes in seine Überlegungen einbezogen zu • haben. Der Paß habe vielmehr unverändert bleiben sollen; denn • das Lichtbild des Passes, das den Chaouki Atris im Alter von etwa 12 Jahren gezeigt habe, hätte Anlaß geben können zu der Annahme, daß es sich um ein Lichtbild des Angeklagten Rhayel im gleichen Alter handele. Zu dieser Bewertung des bisherigen Ergebnisses der Beweisauf- nahme könnte man gelangen, wenn die einzelnen Geschehnisahläu— fe für sich betrachtet und nur in Beziehung zu den Einlassun- gen des Angeklagten und von Zeugen gesetzt würden. Eine solche Betrachtungsweise ist jedoch unvollständig. Es kommt nicht auf die Bedeutung des jeweiligen Einzelumstandes an. Die einzelnen
2 Ums ände müssen vielmehr in ihrem Zusammenhang gewürdigt wer- ( den (vgl. BGH bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1988, 212; Klein- knecht/Meyer—Goßner, Stpo 41. Aufl., § 261 Rdn. 2) . Diese t ür— digung kann im gegenwärtigen Stadium des Verfahrens nur vor- läufig sein; die abschließende Bewertung ist erst in der Schlußberatung möglich. Der Senat kann daher auch nicht end- gültig zu der Frage Stellung nehmen, welchem der Beweismittel letzlich zu folgen sein wird. Bei der Prüfung der Haftfrage kommt es nur darauf an, ob die Verdachtsgründe sich so vermin- dert haben, daß sie die für die Aufrechterhaltung eines Haft— befehis erforderliche Schwelle des dringenden Tatverdachts un- terschritten haben. Das ist nicht der Fall. b) Über den Zeitpunkt, in dem der Paß beschafft worden ist, und über die Begleitumstände der Paßbeschaffung liegen unter- schiedliche Schilderungen vor. Nach einer, später allerdings geänderten, Darstellung vermißte Chaouki Atris den Paß späte- stens vor dem 13. September 1993, weil er ihn beim Arbeitsamt hätte vorlegen müssen. Nach der geänderten Darstellung befand sich der Paß dagegen seit Mitte August 1992 bei dem Zeugen Güzel, der ein Touristenvisum für eine Reise des Chaouki Atris in die Türkei besorgen sollte, und ist Ende September 1992 zu- rückgegeben worden. Folgt man diesen Auskünften, so wurde der Paß, der anläßlich der Festnahme der Angeklagten Amin und Rhayel in Rheine sichergestellt wurde, erst nach der Tat be- schafft. • Mit einer Entwendung des Passes bereits vor der Tat und einer entsprechenden Verabredung mit dem späteren Benutzer ließe sich die Fahrt des Angeklagten Atris vom 24. September1992 nach Rheine in einensachlich nahen Zusammenhang bringen. Auf dieser Fahrt brachten Atris und Hussam Chahrour den Angeklag- ten Rhayel nach Rheine, wo sich bereits der Angeklagte Amin • aufhielt. Der Weiterfahrt des Atris und des Chahrour nach Am- sterdam hat der Angeklagte Atris die Bedeutung einer reinen Vergnügungsfahrt beigemessen, bei der sich beide die Stadt hätten ansehen wollen. Die in der Wohnung in Rheine sicherge— stellten Daten über Abflugmöglichkeiten aus den Niederlanden und der Umstand, daß der Paß bei seiner Sicherstellung am 4. Oktober 1992 bereits mit einem Lichtbild des Angeklagten Rhayel verfälscht war, legen jedoch die Annahme nahe, daß die
3 Fahrt in die Niederlande der Erkundung von Fluchtrnöglichkeiten der Angeklagten Amin und Rhayel über das Ausland diente und daß der Paß zu einem Fälscher gebracht wurde, der ihn am 29. September 1992 am Bahnhof in Rheine zurückgab oder zuruckgeben ließ. Für einen solchen Geschehensablauf spricht die Darstel- lung des Angeklagten Rhayel in der kriminalpolizeilichen Ver- nehmung vorn 4. Oktober 1992, wonach er den Paß unter den ge- nannten Umständen zurückerhaiten hat. Die am 27. September 1992 in Rheine aufgenommenen Fotos in OSA 13.1 Bi. 59.17 bis 59.19 zeigen den Angeklagten Atris, der fl nach den Angaben des Angeklagten Arnin noch einmal mit dem Zug nach Rheine gekommen war. Vermutlich brachte Atris bei dieser Gelegenheit das Gepäck des Rhayel nach Rheine; denn am 24. September 1992 war Rhayel ohne Gepäck gereist. Mehrere Gepäck- • stücke, die Rhayel zuzuordnen sein dürften, sind aber in der Wohnung in Rheine aufgefunden worden. c) Die Bekanntschaft des Angeklagten Atris mit Arnin, Ayad und Rhayel, die insbesondere in der gemeinsamen Reise Ende Au- gust/Anfang September 1992 zu einem religiösen Fest ihren Aus- druck findet, und die sich vorläufig aus objektiven Umständen ergebenden Schlußfolgerungen über Betätigungen des Angeklagten Atris vor und nach dem Anschlag vom 17. September1992 begrün- den auch nach der inneren Tatseite die für den dringenden Tat— verdacht ausreichende Wahrscheinlichkeit. 2. Die Fluchtgefahr ist trotz der bisherigen Dauer der Unter— suchungshaft noch so erheblich, daß eine Aussetzung des Voll- zuges des Haftbefehls nicht zu verantworten ist.